Mehr Demokratie - mit allen Mitteln, wenns sein muss auch mit Gewalt
noreply@info.auswaertiges-amt.de

Rede von Außenminister Guido Westerwelle auf der Münchener Sicherheitskonferenz
06.02.2011


-- Es gilt das gesprochene Wort! --

Sehr geehrte Herren Präsidenten,

sehr geehrter Herr Senator,

Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren,

gestern Abend stand unsere Diskussion ganz im Zeichen der atemberaubenden Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten. Wir alle hören den Ruf nach Freiheit und Demokratie. Wer jetzt friedlich auf der Straße für mehr Mitsprache demonstriert, nimmt ein Menschenrecht in Anspruch.

Die nächsten Wochen werden darüber entscheiden, ob wir tatsächlich Zeugen einer Zeitenwende werden. Wir setzen alle darauf, dass der Wandel friedlich verläuft und zu einer Demokratisierung in Freiheit und Gleichberechtigung führt.

Der heutige Vormittag steht zu Recht im Zeichen von Afghanistan. 1989 richteten sich alle Augen auf die neue Freiheit in Europa. Zur gleichen Zeit versank Afghanistan im Bürgerkrieg. Die internationale Gemeinschaft hatte sich nach dem Abzug der sowjetischen Truppen von Afghanistan abgewandt. Dieser Fehler wird sich nicht wiederholen.

Wir schauen weiter auf Afghanistan. Wir tragen weiter unsere Verantwortung für Afghanistan.

Das vergangene Jahr hat mit einem Strategiewechsel begonnen. 2010 ist unser Blick auf Afghanistan und vor allem unser Leitbild für unseren Einsatz realistischer geworden.

Dieses Jahr werden wir die neue Strategie zum Erfolg führen. 2011 muss das Jahr der Politik in Afghanistan werden.

Der Deutsche Bundestag hat vor wenigen Tagen mit eindrucksvoller Mehrheit den Einsatz der Bundeswehr verlängert. Das war ein Kraftakt und zukünftige Verlängerungen werden nicht einfacher.

Wir wollen unsere Kräfte reduzieren, sobald es die Lage erlaubt. Keine Reduzierung darf die verbleibenden Soldatinnen und Soldaten in zusätzliche Gefahr bringen, weder die deutschen noch die unserer Verbündeten. Wir sind gemeinsam rein gegangen, wir werden gemeinsam raus gehen, wenn unsere gemeinsame Aufgabe erfüllt ist.

In Afghanistan ist in der vergangenen Woche ein neues Parlament zusammengetreten. Damit geht nach der Wahl Ende September ein schwieriger Prozess zu Ende. Niemand kann heute noch bestreiten, dass es bei der Wahl zu Unregelmäßigkeiten kam. Vieles gilt es zu verbessern bis zur nächsten Wahl.

Ich begrüße, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der Wahlmanipulationen durch die zuständigen afghanischen Behörden weitergeht.

Es gibt in der Welt Beispiele für Parlamente, die keinen Einfluss haben. Das Parlament in Afghanistan hat gezeigt, dass es ein selbstbewusstes Parlament sein wird. Das ist ein gutes Signal für die Demokratie in Afghanistan.

Ich wünsche Ihnen, Herr Präsident, eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Parlament. Im Wettbewerb der Meinungen wird hart gerungen. Aber auch wenn Kritik für eine Regierung selten angenehm ist, für die Demokratie ist sie so wichtig wie die Luft zum Atmen.

2010 war ein schweres Jahr und wir dürfen die Opfer nicht vergessen. Auch in den kommenden Monaten und Jahren werden uns Fortschritte nicht geschenkt werden. Sie müssen weiter erarbeitet und erkämpft werden. Wir müssen noch große Hürden überwinden, damit spätestens 2014 die Sicherheitsverantwortung für das gesamte Land in afghanische Hände übergeben werden kann. Dazu sind wir bereit. Die Weltgemeinschaft stellt mehr Geld für den zivilen Wiederaufbau und für die politische Arbeit bereit als je zuvor.

Sie alle kennen die Weichenstellungen von London, Kabul und Lissabon.

Im Frühjahr wird die Übergabe der Sicherheitsverantwortung, die Transition, in einzelnen Provinzen und Distrikten beginnen.

Beim Treffen der NATO-Außenminister in Berlin im April werden wir wissen, welche Gebiete das sind.

In Lissabon haben wir beschlossen, dass die NATO Afghanistan in einer langfristigen Sicherheitspartnerschaft unterstützen wird. Denn natürlich endet mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen nicht die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Wir werden Sicherheitskräfte und regionale Institutionen auch nach Übergabe der Verantwortung unterstützen. Sie müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre schwere Aufgabe erfüllen können.

Die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten läuft schneller als erwartet. Wir konnten mehr Kräfte ausbilden, als wir uns das vorgenommen hatten.

Das ist ein erster Erfolg. Aber letztlich wird sich unser Erfolg nicht vor allem daran bemessen, wie viele Soldaten und Polizisten heute die Ausbildungsstätten verlassen. Über den Erfolg entscheidet, wie viele Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten in einem Jahr ihren Dienst tun, wie viele in zwei und in drei Jahren.

Die Gewalt in Afghanistan wird nicht mit der Unterzeichnung einer Kapitulationsurkunde enden. Wir werden keinen eindeutigen Sieger sehen und auch keinen eindeutig Besiegten. Der Konflikt lässt sich nicht rein militärisch lösen.

Nur eine umfassende politische Lösung wird Afghanistan Frieden bringen. Der politische Prozess beginnt gerade erst. Die Führungsrolle muss in Afghanistan selbst liegen. Versöhnung wird in Afghanistan nur gelingen, wenn alle wesentlichen politischen Akteure auch außerhalb der staatlichen Institutionen am Versöhnungsprozess teilhaben.

Der Versöhnungsprozess muss den Afghaninnen und Afghanen das Vertrauen geben, dass die Schreckensherrschaft der Taliban nicht zurückkommt.

Auf den Hohen Friedensrat setzen wir große Hoffnung. Ziel ist es, alle Konfliktparteien zu den Gesprächen an den Tisch zu bekommen. Das wird nicht einfach. Aber Versöhnung ist selten einfach. Wir brauchen Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Dann werden die Gespräche im Hohen Friedensrat echte Ergebnisse bringen.

Der politische Prozess wird auch der afghanischen Regierung einiges an Kompromissbereitschaft abfordern. Für den Kompromiss gehört vieles auf den Prüfstand. Aber es gibt auch rote Linien.

Erstens. Die afghanische Verfassung und die darin garantierten Menschenrechte müssen respektiert werden.

Zweitens. Die Aufständischen müssen vollständig auf Gewalt verzichten.

Drittens. Sie müssen sämtliche Verbindungen zum internationalen Terrorismus kappen.

Wer diese Anforderungen erfüllt, wird in der afghanischen Gesellschaft seinen Platz finden.

Der politische Prozess darf nicht abstrakt bleiben. Er muss konkrete, sichtbare Ergebnisse im Leben der Betroffenen bringen. Diejenigen, die der Gewalt abschwören, brauchen für eine Wiedereingliederung echte berufliche Perspektiven. Der Weg zur Wiedereingliederung beginnt oft im Kleinen.

Ein Kämpfer lernt erst lesen und schreiben und erhält anschließend eine Berufsausbildung, mit der er sich selbständig machen kann. Das Wiedereingliederungsprogramm der afghanischen Regierung setzt das bereits um. Über 1000 Kämpfer wurden in den letzten Monaten demobilisiert. In der Provinz Kundus haben sich ganze Gruppen auf die Seite der Regierung geschlagen. Die afghanische Seite leistet gute Arbeit. Die wichtigsten Strukturen stehen, die ersten Mittel sind geflossen. DEU gehört mit 10 Millionen Euro jährlich zu den wichtigsten Gebern.

Die Hilfe zur Selbsthilfe ist Teil des übergeordneten politischen Prozesses. Alles, was den Menschen Arbeit und eine Zukunft bringt, ist ein Schritt zur inneren Aussöhnung in Afghanistan.

Ziviler Aufbau ist viel mehr als Nächstenliebe, er ist angewandte Sicherheitspolitik.

Die Nachbarstaaten Afghanistans entscheiden über den Erfolg oder Misserfolg ganz erheblich mit.

Der Vertrag über den grenzüberschreitenden Handel zwischen Afghanistan und Pakistan ist ein Beispiel, dass Stabilität in Afghanistan auch den Nachbarn Vorteile bringt. In diese Richtung müssen wir weiter denken.

Die Stabilisierung in Afghanistan ist keine Angelegenheit des Westens, sondern eine Angelegenheit der Region und der Weltgemeinschaft. Das nächste Treffen der internationalen Kontaktgruppe in Djidda unterstreicht, dass auch die islamischen Staaten Verantwortung für Afghanistan übernehmen.

Ich wünsche dem Vorsitzenden der internationalen Kontaktgruppe, Botschafter Michael Steiner, viel Erfolg bei seiner weiteren Arbeit.

Der politische Prozess geht über die Wiedereingliederung von Kämpfern weit hinaus. Dazu gehört bessere Regierungsführung. Vielerorts in Afghanistan kann von einer effektiven und fairen Verwaltung kaum die Rede sein. Korruption und Vetternwirtschaft sind keine Einzelfälle.

Wir brauchen eine Regierung, die für die Bürger arbeitet und die Menschenrechte schützt. Wir brauchen eine unabhängige Justiz.

Wir stehen noch vor großen Aufgaben. Aber wir haben eine gemeinsame Strategie, um diese Aufgaben zu erfüllen. Wir haben den Willen und die Mittel. Gemeinsam werden wir an einem Afghanistan in Frieden und Freiheit weiter arbeiten.

Mit Jahresbeginn hat Deutschland sein zweijähriges Mandat im Sicherheitsrat angetreten. Auch dort tragen wir zur Befriedung Afghanistans bei.

Wir bauen auf die Zusammenarbeit mit den Verbündeten, die diese Verantwortung und diese Verpflichtung im Sicherheitsrat mit uns teilen.

Ihre Bitte, zu einer Konferenz nach Bonn zum Jahresende einzuladen, verstehe ich als Anerkennung für die Rolle Deutschlands in Ihrem Land. Zehn Jahre, nachdem Deutschland für Afghanistan auf dem Petersberg Verantwortung übernommen hat, wollen wir den Fahrplan für die letzten drei Jahren der Übergangsprozesses bis Ende 2014 festlegen.

Vor zehn Jahren führten die Vereinten Nationen den Vorsitz. Damals gab es keine legitime afghanische Regierung. In diesem Jahr wird das anders.

Die Konferenz in Bonn wird eine afghanische Konferenz.

Ihr Volk kann auch nach 2014 mit unserer Unterstützung rechnen. Sie wird anders aussehen als heute. Sie wird ziviler sein als heute. Sie wird politischer sein. Aber sie wird deswegen umso wichtiger sein.

Internetangebot des Auswärtigen Amts: www.auswaertiges-amt.de

Kommentieren